Devi & Ivanov: SCHOCKFROST.
Thriller, 288 Seiten, Englische Broschur
€19 Seiten: 320 ISBN: 9783293005235
Unionsverlag (2017)Sarah und Kaspar
waren einmal ein Paar. David, der Dave genannt werden werden will, ist ihr
15-jähriger Sohn. Eine solche Familiensituation klingt allzu vertraut und doch
ist hier gleich von Beginn an einiges anders: Sarah und Kaspar haben denselben
Beruf, Psychiater, haben früher zusammengearbeitet, bis es nicht mehr ging. Zu
unterschiedlich sind die Positionen, die sie vertreten: Ab welchem Punkt führt
Hilfe zu einer schrittweisen Entmündigung? Ab welchem Punkt wird ein Mensch für
sich und andere gefährlich? Wann ist Kontrolle unabdingbar und wann beginnt
Paranoia?
Schon die ersten Seiten dieses
Thrillers führen in verstörende Szenen, die klarmachen, dass Normalität von
jedem als etwas anderes empfunden wird. Sarah, die Praxis, Kind, die
Wochenendbesuche der geliebten behinderten Schwester im Rollstuhl und eine zart
startende neue Liebesbeziehung unter einen Hut zu bringen versucht, erreicht
schnell ihr Limit. Ihr Alltag gerät aus dem Trott. Es kann nicht nur die
Pubertät Daves sein, am Kontrollwahn ihres Ex, dem neuen Therapeuten, der die
leer stehende Praxis in ihrem Haus gemietet hat, liegen. Till, der Mann, in den
sie sich verliebt hat, agiert als Helfer in der Not, als auch noch ein
schwieriger Patient alles verkompliziert, und Dave zu lügen beginnt.
Rasant führen Mitra Devi und
Petra Ivanov auf einen unerwarteten Höhepunkt zu. Denn der Leser wird
gleichzeitig mit einem Drama konfrontiert, das nur zwei Jahre zurückliegt, das
nichts mit Sarah zu tun hat und das trotzdem ihre Zukunft beeinflussen wird.
Doppelautorenschaften sind oft
spannend, schon allein, wenn man sich den Arbeitsprozess vorzustellen versucht.
In diesem Fall erwartet uns ein spezielles Vergnügen: Die Schweizerinnen Mitra
Devi und Petra Ivanov sind gut eingeführt in der Krimiszene, sie haben jede für
sich eine besondere Stimme entwickelt und eine persönliche Vorliebe für einen
Schwerpunkt. Und trotzdem haben sie es geschafft, einen Roman zu schreiben, in
dem es keine Brüche gibt, keine verräterischen Übergänge. Dazu kommt für
Nichtschweizer das Idiom, das sprachliche Eigenheiten wunderbar pflegt und so
den Leserblick auf die Vielfalt der deutschen Hochsprachen lenkt.
Das Thema, das den Thriller
prägt, ist die Moral bzw. Scheinmoral, mit der die Gesellschaft mit psychischen
Kranken umgeht. Das ist in der Schweiz genauso wie anderswo – und wäre schwere
Kost, wenn es nicht so gut dargestellt würde wie in diesem Band. Alle Figuren
haben Stärken und Schwächen, keiner erscheint als Held. Bis auf Till, der als
unabhängiger Künstler anderen Arbeitsregeln folgt, könnten alle Charaktere wir
selbst sein, erleichtert vermutlich, nicht Sarahs Last schultern zu müssen, mit
Verständnis für die Positionen aller, auch Kaspars, auch der geschilderten
Patienten. Wegen dieser Stärke geht der Roman so unter die Haut. Denn die heile
Welt der Schweiz ist natürlich genauso schadhaft wie unsere. Und selten werden
komplexe Zusammenhänge so gut aufgefächert und mithilfe von Krimifiktion so gut
dargestellt wie hier.